Meine Neue Ländlichkeit

Wenn ich von Berlin komme und aus dem Zug in dem kleinen Ort Hähnichen in der Oberlausitz aussteige, dann weiß ich wieder ganz genau, warum ich auf dem Land lebe. Dieser Geruch! Je nach Jahreszeit riecht es nach Blüten, Wiese, Heu, nach Regen oder auch einfach nur nach Erde oder überhaupt nach frischer Luft. Es ist ein Geruch der Fülle, der Freiheit, der Lebendigkeit, von Heimat – ohne dass ich hier in der Nähe geboren worden wäre.

Wenn ich Worte der Stadt oder dem Land zuordne, dann ergibt sich das folgende Panorama:

Stadt                                         Land
Stress_______________________Kraft
Freiheit_____________________Freiheit
Krach_______________________Stille
Kultur_______________________Selber machen
Ärzte________________________Gesundheit
Dienstleistungen_____________Selber machen
Entfremdung_________________Verbunden sein
Erleben_______________________Genießen
Enge_________________________Weite
Unterhaltung_________________Selber machen

Für meine Bedürfnisse kommt die Stadt hier gar nicht gut weg.

Meine Liebe zum Land hat viel mit der sogenannten schönen Jahreszeit zu tun: Diese warme Zeit, die einem das Herz öffnet und das Leben leicht macht. Als ich das erste Mal meinen Wohnsitz auf das Land verlegte – in eine Ansammlung von acht Häusern in der Ostprignitz – war es Spätherbst. Und auch wenn ich am Grunde fühlte, dass ich „nach Hause“ gekommen bin, war es doch ein Entzug. 15.30 Uhr war es dunkel und nichts lockte mehr draußen. Die drei Zimmer, die noch im Sommer – durch den weiten Blick hinaus – versprachen sehr heimelig zu sein, wurden enger und enger. Das ganze Verlangen nach Unterhaltung und Ablenkung musste ich jetzt entweder loslassen oder selber füllen, wenn ich nicht nur vor der Glotze hocken wollte. Die hatte ich allerdings schon vorher abgeschafft. Ich lernte, dass man auf dem Land wissen muss, was man will – und das wusste ich glücklicherweise. Oder man hat Familie, dann weiß man auch was man will.

Die kalten, grauen Tage sind von einer Schönheit durchzogen, die erst gefunden werden will. An so einem Tag würde ich am liebsten die Decke bis zur Nasenspitze hinaufziehen und warten bis es Frühling wird. Geh‘ ich dann doch hinaus, dann beginne ich sie langsam zu entdecken: Farben leuchten an einem grauen Tag, die Luft macht den Kopf klar. Und auf einer tieferen, wesentlicheren Ebene ist ein Waldbad mit Lichtdusche immer belebender und beschenkender als ein Getriebenwerden durch die Reklamen der Stadt, die meine Aufmerksamkeit „reklamieren“ und mich zerstreuen.

 

Blick aus dem Arbeitszimmer

Erst einmal fühlte es sich also so an, als müsste ich auf dem Land stärker sein. War es nicht einsam hier? Das relativierte sich bald, ich hatte ja Nachbarn, auch wenn ich die mir nicht ausgesucht hatte, und so war ich genauso für einen Schnack über den Gartenzaun zu haben wie die anderen auch. War es nicht tot hier und uninspirierend? Wo waren die ganzen rund um die Uhr aktiven Menschen, die mich mit auf Trab hielten? Ich lernte, dass der Blick in die Weite der Landschaft Kreativität weckt. Ich weite dann nicht nur meinen Blick, sondern auch meinen Geist, komme aus meinem Stress-Tunnel heraus und bin in der Lage, „the big picture“, die großen Zusammenhänge zu sehen.

Inzwischen erlebe ich es andersherum: Ich muss viel stärker sein, wenn ich in der Stadt „überleben“ will. Ich muss diese Enge ertragen, diesen Beton, die schlechte Luft draußen und drinnen, gehetzte und gestresste Menschen, den Dreck. Ich erinnere mich, wie ich mich letztes Jahr in Berlin zu anderen Sonnensuchenden auf eine Grünfläche gesellen wollte und die mich schon von weitem mit ihrer vertrauten Farbe lockte. Als ich näher kam, konnte ich mich da einfach nicht hinsetzen, so wie die anderen auch. Die Wiese war an ihrem Boden mit Kronkorken und Zigarettenfiltern bedeckt, darüber sprießte das Gras.

Wenn ich es mir genau betrachte, ist nicht viel Platz für den Menschen in einer Stadt, die möglichen Wege sind genau vorgezeichnet, Bewegungen durch Ampeln getaktet, ich kann nicht einfach querfeldein rennen, sondern muss ständig auf unsichtbaren Schienen bleiben, damit es keine Unfälle gibt.

Ich muss erdulden, dass ich an vielen, vielen Menschen vorbeirenne, ohne sie anzugucken. Wenn ich auf dem Bahnhof in Berlin ankomme, dann stehen dort mehr Menschen als in Klein Priebus wohnen und ich bin auf dem Weg dahin so vielen Menschen begegnet, wie im Mittelalter ein Mensch im ganzen Leben nicht. Ich kann das einfach nicht mehr, woran ich vorher so gewöhnt war: Mich erschöpft die Stadt.

Hier auf dem Land werde ich getragen und gehalten, hier fühle ich mich als Mensch wieder als sinnvoller Teil eines großen, lebendigen, rhythmischen Ganzen, nämlich immerhin inmitten meines Gartens. In dem die Tiere sein dürfen – auch die ekligen und hässlichen – und Pflanzen sich entfalten und ich unterstützend zur Hand gehe. Es ist ein kleines Stückchen Land, das ich gestalten kann, wie ich es für richtig erfühle.

Und doch ist mein Leben auf dem Land kein Zurückdrehen von Zeit und Geschichte. Es ist erst mit der Digitalisierung möglich geworden. Ich brauche das Internet für unsere Kreativagentur und will es auch für mein restliches Leben überhaupt nicht missen. Die Digitalisierung gleicht das Stadt- und Landleben auf einigen Ebenen aneinander an. Ich habe nun Zugang zu (fast) allen Informationen und zu allen Produkten. Ich habe sogar getestet, ob ich mein Lieblingseis bestellen kann. – Ja, kann ich. Ist ökologisch gar nicht korrekt, denn es wird in einer riesigen Styropor Box mit Trockeneis schön auf minus 18 Grad gekühlt geliefert, aber falls es mal einen Notfall in dieser Hinsicht geben sollte, ist das also möglich. Und auch der Zugang zu Kultur ist nicht so unmöglich wie oft empfunden. Das nächste Theater ist eine dreiviertel Stunde entfernt. Wenn ich in Berlin vom Prenzlauer Berg zum Schillertheater auf dem Kudamm fahre, brauche ich auch nicht weniger. Die Oberlausitz ist also, wenn man Entfernung als Zeit begreift, wie eine große Stadt, nur mit wesentlich mehr Grün und absolut ohne Stau und Parkplatzsuche.

So wie es Dr. Wolf Schmidt in seinem sehr zu empfehlenden neuen Buch „Luxus Landleben“ mit Humor, Klarheit und natürlich fundiertem Hintergrundwissen beschreibt, ist es für mich ein Luxus hier leben zu dürfen. Ein Luxus auf der Ebene des Seins, weniger auf der des Habens. Mit unserer Kreativagentur in einem 120-Seelen-Dorf bin ich ein Mitreiter der von ihm als Begriff geprägten „Neuen Ländlichkeit“, die zusammen mit der aufblühenden Kultur- und Kreativwirtschaft eine riesige Chance für die Entwicklung dieser weniger besiedelten Regionen sein kann, denen nach herkömmlichen Wirtschafts- und Wachstumsvorstellungen eine düstere Zukunft vorausgesagt wird. Vielleicht kann hier am Rande – leise und beharrlich – ein anderes Gesellschaftsmodell wachsen. Eines im Sinne von Qualität – durch neu sich ansiedelnde Menschen, die mit ihrem einfachen Sein und daraus Handeln ihre Dörfer verändern.

Und interessanterweise scheinen sich unglaublich viele Menschen nach diesem Sein zu sehnen, auch wenn sie es noch nicht wagen, es zu leben. Dazu muss ich mir nicht mal das auflagenstärkste Magazin Deutschlands anschauen („Landlust“), sondern zappe einfach mal in die TV-Werbung rein. Ständig geht’s da um das Genießen eines Moments, ich sehe herrliche Landschaften und Gärten und die Menschen haben Zeit.

Dass dieser Sehnsucht auch schon mehr als in Träumen und Gedanken gefolgt wird, erleben ganz konkret einige meiner Freunde in unserer Region. Zum Bienenfachtag meldeten sich vor drei Jahren über 200 Leute aus ganz Deutschland an, dieses Jahr waren es schon über 400, und beim Sensenworkshop kamen 2/3 der Teilnehmer nicht etwa aus Nachbardörfern, sondern aus Großstädten.

Als ich 2009 meinen Berliner Schwarm verließ, an die Neiße zog und eine Wildbiene wurde, war ich hier im Dörflichen noch so ziemlich allein. Der Wandel, der sich seitdem ereignete, ist unübersehbar. Im Nachbardorf hat nun ein Dresdner Künstler einen Kunstbuchverlag mit Siebdruckerei. Dort wohnt seit ein paar Jahren auch eine Französin, die illustriert. In unserem Dorf habe ich mit einer Zuzüglerin und Psychotherapeutin eine neue Freundin gewonnen und von weiter drum herum will ich erst gar nicht schreiben, die kann ich gar nicht alle aufzählen. Ich denke, das ist erst der Anfang. So viele der ungemein günstigen Häuser stehen noch gar nicht leer. Die Welle kommt erst noch.

Es ist nicht so, dass die Leute auf dem Land anders wären, aber es ist hier für mich einfacher, dieses achtsame und verbundene Leben, wohin sich meine Seele sehnt, zu lernen. Ich kann mich mit dem ewigen Rauschen der Neiße verbinden, dem Anschwellen und Abschwellen der Jahreszeiten, dem Regenlied zuhören und einfach diesen wunderbaren Geruch der frischen Luft genießen.

„Das ist ja nicht richtig real hier“, höre ich schon einen Kritiker, „Du lebst zurückgezogen in Deiner kleinen Traumwelt“. Schön wär‘s! Wir wohnen an einem Truppenübungsplatz, hier wird Afghanistan „geprobt“. Manchmal mehr meistens weniger hören wir Einschläge, Schüsse, Hubschrauber und sind so immer auch mit dem großen entfremdeten, kaputten Ganzen verbunden.

 

Meine Neue Ländlichkeit

Kontakt: a.kohlschmidt@blendwerck.de

Autorin Arielle Kohlschmidt ist Kreative und betreibt seit 2009 nach langen Jahren in Berlin zusammen mit ihrem Mann ihre Agentur Blendwerck im ländlichen Raum. Sie engagiert sich gesellschaftlich für ihre Region und unterrichtet Meditation und Yoga. Ganz schön viel auf einmal, aber ziemlich typisch für Selbständige im ländlichen Raum.
http://www.blendwerck.de/
http://www.meditation-trainer.de/

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