Tagungsort Alte Brennerei Zinzow
Vortrag bei der 17. Fachtagung zu Historischen Kulturlandschaften und zur Gartendenkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern des Bundes Deutscher Landschaftsarchitekten, Landesgruppe MV, in Zinzow am 19. Oktober 2018
Warum wurde die Elbphilharmonie gebaut? Nicht, weil Hamburg dringend einen solchen Konzertsaal brauchte. Tatsächlich ging es um die HafenCity. Die Stadt Hamburg hatte ein großes Gelände plattgemacht und die Verantwortlichen merkten, dass die Vermarktung der Flächen zu den angestrebten hohen Preisen nicht funktionierte. Ich habe diesen Prozess in meinem Vorstandsbüro an der Kehrwiederspitze täglich vor Augen gehabt.
Die Speicherstadt, Weltkulturerbe, das man ursprünglich auch abreißen wollte, war nicht der erhoffte Magnet. Sie bildete eher eine Grenze zwischen Hanseatisch-Pittoreskem und der modernen Ödnis mit Wertigkeitsanspruch auf der anderen Seite. So brauchte man einen Knüller als Aushängeschild für die HafenCity selbst. Dabei entstand die Idee mit der Elbphilharmonie auf einem funktionslosen, in seiner Ästhetik fraglichen, nach Buttersäure stinkenden 60er-Jahre-Klotz.
Die weitere Geschichte kennen Sie. Planerisch und sozial ist das Ganze ein Skandal. Aber die Idee hat funktioniert. Die gesamte HafenCity wurde durch Elphi zum Magneten. Eine Flotte braucht ein Flaggschiff, das den weniger spektakulären Rest mitzieht. Das ist Marketing-Einmaleins. Bayer braucht Aspirin, Beiersdorf Nivea.
Das haben übrigens auch die Strategen der stalinistischen Kollektivierung bei uns gewusst. Deren Elphi ist das Kulturhaus Mestlin.
Orte brauchen Zeichen
Erst ein herausragendes Zeichen macht aus einer beliebigen Gegend einen konkreten Ort, verleiht Bedeutung. Im Zeitalter der Postkarte war das besonders sinnfällig: „Gruß aus dem schönen Wolkenheim“ – was wurde da gezeigt? Ein markantes Bauwerk.
Ein Ort, der kein Postkartenmotiv aufbieten kann, existiert eigentlich nicht. Da reimt sich irgendwo auf nirgendwo. Und wer einem Ort sein Postkartenmotiv nimmt, zerstört ihn – zuerst nur ideell und in Folge davon vielleicht auch materiell.
Viele unserer Dörfer haben leider keine Postkartenmotive mehr. Sie sind Ansammlungen von Landarbeiter-Katen der Güter, simplen Neusiedleranwesen der frühen Nachkriegsjahre, DDR-Typ-Bauten und neuzeitliche Beliebigkeit aus dem Katalog der Bauindustrie. Als aufregendste Individualität erweist sich dann die Farbe der Dachziegel. Außerdem nicht zu übersehen sind landwirtschaftliche Betriebshallen mit Blechvorhang.
Wenn dieses schlichte Mittelmaß überragt wird von einem Gebäude, das man bei uns auf dem Dorf gern Schloss nennt, oder auch von einer würdevollen Kirche, einer großen Feldsteinscheune, einer alten Mühle, einem ausdrucksvollen Speicher und selbst einem mehr als trivialen Bahnhofs- oder Schulbau, dann erhält die Ansiedlung eine Ausstrahlung, die das beliebige Drumherum aufwertet.
Es gilt in unserem ländlichen Raum einer Gegend durch Gliederung ein Gesicht zu geben. Das besonders angesichts wachsender Monotonie in der agroindustriellen Landnutzung. Dieses Gesicht verleiht Baukultur mit sichtbaren Zeichen, die ausstrahlen und Heimat ausdrücken.
Das ist vorerst kein Plädoyer für den Neubau ländlicher Elphis, aber doch für die Erhaltung dessen, was uns die Geschichte vor Ort als markante Zeichen hinterlassen hat.
Nun sind wir uns sicher einig, dass diese Hinterlassenschaften zunächst mal eine Bürde bilden – für die Besitzer und wohl auch für eine Planung, die vielleicht lieber tabula rasa sähe. Bilden Sie deshalb eine Fortschrittsbremse? Und der viele Aufwand? Bedeutet er nicht Perlen vor die landwirtschaftlichen Säue?
Neues Arrangement von Urbanität und Ländlichkeit
Wer das nur innerhalb des gemeindlichen Tellerrands zu beurteilen versucht, springt zu kurz. Die Bedeutung von ländlicher Baukultur und historischer Kulturlandschaft ergibt sich erst im Kontext eines neuen Arrangements von Urbanität und Ländlichkeit.
Der ländliche Raum wird zwar landschaftlich weiter von Agrarproduktion geprägt, gesellschaftlich spielt die Landwirtschaft aber keine Rolle mehr. 16.000 von 1,6 Millionen Menschen in MV sind noch sozialversicherungspflichtig in Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft beschäftigt. Was machen all die anderen Menschen – immer noch die Bevölkerungsmehrheit – auf dem Lande?
Wir haben es längst mit einer Neuen Ländlichkeit zu tun. Im Unterschied zur alten Ländlichkeit hat sie sich von Erwerbslandwirtschaft abgekoppelt, sie lebt nicht mehr im Herr-Knecht-Verhältnis, ist nicht mehr schicksalhaft von der Wiege bis zur Bahre, sondern frei gewählt – und das häufig nur für eine Lebensphase.
Auf dem Land sehen wir immer mehr Menschen, die früher die Stadt bevorzugt haben: Freiberufler und Künstler, Berater und Vertriebler, Experten und Spezialisten, die neuen Laptop-Nomaden, die somewhere und nicht mehr anywhere leben wollen. Menschen, die weder auf Arbeitgeber noch Kunden direkt vor Ort angewiesen sind. Menschen mit Bildungs- und Finanzressourcen – keineswegs nur Senioren, sondern auch junge Familien, die sich nicht selten die Beschulung ihrer Kinder gegen den Staat erkämpfen müssen.
Basis Internet
Basis dieser Neuen Ländlichkeit ist das Internet, das den zivilisatorischen Abgrund zwischen dem, was im Kommunistischen Manifest der „Idiotismus des Landlebens“ genannt wird, und der wissenden Stadt überbrückt. Wo das Weltwissen auf dem Dorf verfügbar wird, finden sich solche Menschen dort ein, die z.B. Garten und Badesee, Angeln und Jagen, Reiten und Handwerken, gesunde Lebensweise, kulinarische und kulturelle Selbsttätigkeit, Sicherheit und Hilfsbereitschaft in einer vertrauten Nachbarschaft zu schätzen wissen.
Medien und Politik predigen den Hype des Urbanen. Das Gegenargument ist die „Landlust“, das erfolgreichste deutsche Magazin vor Spiegel, Stern und all den anderen. In Wirklichkeit ist das kein Entweder-Oder.
Die Trends ergänzen sich. Die einen ziehen in die Großstädte, die Metropolen, die anderen gehen aufs Land. Und eine wachsende Gruppe lebt zweiheimisch: einen Teil der Woche in der Stadt einen Teil auf dem Land.
Gerade wer Stadt als Lebensmodell sichern will, muss das Landleben attraktiv machen. Wenn wir dem globalen Trend der Verstädterung a la Rio, Peking oder Istanbul folgen, werden wir unsere Welt sozial und ökologisch zugrunde richten.
Argumente für ländliches Leben
Das stärkste Argument pro Wohnen auf dem Land ist der Preis – aber das ist nicht hinreichend. Das wirksamste Contra-Argument ist ein urbanes Vorurteil über das Ländliche als Resterampe der materiell und geistig Abgehängten, wo Dunkeldeutschland zu Hause ist.
Wenn Menschen aus der Stadt aufs Land ziehen, entscheiden Sie sich nie bloß für billig und – von wenigen Sektierern abgesehen – erst recht nicht für ein braunes Bullerbü. Land braucht für seine Anziehungskraft auch soziale, naturräumliche und baukulturelle Ästhetik.
Ein herrschaftliches Anwesen können Sie sich bei entsprechendem Kontostand auch an der Alster oder Elbchaussee kaufen. Ob sie da nachbarschaftliche Geborgenheit finden, ist eine andere Frage. Der letzte CDU-Bürgermeister ließ allein für Sicherheitsmaßnahmen in seinem Elbvororte-Haus 1 Mio. Euro ausgegeben. Bei allem Wohnkomfort werden Sie dort kaum den Sternenhimmel erkennen oder Mondschein erleben, sie werden nicht die Geräusche der Natur hören und nicht den Siedlungslärm abschalten können. Sie werden dort weder einen Badesee vor der Tür haben noch das Pferd für einen Ausritt satteln. Und am Lagerfeuer singen, das geht auch nicht. Viele in MV genießen solchen Luxus ohne große Kosten.
So ist es kein Wunder, dass die relative Mehrheit der Deutschen auf dem Lande leben möchte. Das stellen die Allensbacher Demoskopen ebenso fest, wie z.B. 2015 die Bundesstiftung Baukultur: „Der ländliche Raum scheint jedoch, allen Unkenrufen zum Trotz, insgesamt die bevorzugte Wohngegend zu sein: Danach gefragt, wo sie – unabhängig von ihrer finanziellen Situation oder anderen Rahmenbedingungen – am liebsten wohnen würden, sagen 45 Prozent der Bürger, dass sie eine ländliche Gemeinde wählen würden. Jeder Dritte (33 %) würde sich für eine Klein- oder Mittelstadt entscheiden und nur jeder Fünfte (21 %) für eine Großstadt.“
Für ländliche Attraktivität ist es – neben Breitbandausbau! – wichtig, den sozialen Zusammenhalt auf dem Land zu sichern, das Kulturleben zu fördern, die Interessen von Landwirtschaft und Bewohnern gut auszubalancieren, in der Energiewende nicht nur auf Profit und Funktionalität sondern auch auf Ästhetik, Natur- und Gesundheitsschutz, – auf Lebensgefühl – zu achten.
Erbe ermöglicht Identifikation
Eine Schlüsselrolle hat das historische Erbe – das des Landes ebenso wie das lokale . Es verleiht dem Ländlichen etwas Besonderes und Bedeutsames, ist Träger von Geschichte und Geschichten, macht einen Ort unverwechselbar, ermöglicht Identifikation und damit Heimat.
Wer das epochemachende Filmepos „Heimat“ von Edgar Reitz vor Augen hat, kennt die paradoxe Situation, dass die Lokalgeschichte von den Zuwanderern wichtiger genommen wird als von den Einheimischen. Es sind die Zugewanderten, die alte Handwerke, Bauweisen, Kochrezepte, Traditionen und Feste pflegen. Das ist bei uns nicht anders. Heimisch wird man über Historie.
Historisch gesehen ist das nicht frei von Dejavue. Es war ja städtische Bourgeoisie aus ganz Deutschland – vor allem Hamburg und Berlin -, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts feudale Landsitze bei uns aufkaufte oder neu baute; um sich ein Image adliger Ländlichkeit zu geben.
Heute sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen zum Glück andere. Aber das Grundmotiv, eine Alternative zum städtischen Leben zu entwerfen; ist geblieben. Herrenhäuser haben jenseits aller baugeschichtlich-denkmalpflegerischen Begutachtung eine gesellschaftliche Botschaft: Sie sind ein Aufruf, die Gehäuse einer untergegangenen alten Ländlichkeit mit Ideen einer Neuen Ländlichkeit, mit neuen Formen des Zusammenlebens, des Arbeitens, der Kultur und öffentlicher Initiative zu beleben.
Von den demografischen Untergangsszenarien dürfen wir uns dabei nicht blenden lassen, denn sie alle sind blind für den Faktor Zuwanderung.
So kann das, was uns heute teilweise noch Bürde ist – marode Herrenhäuser, ungenutzte Kirchen, Denkmäler der Gutswirtschaft -, zu einer Zukunftsressource für die Revitalisierung strukturschwacher Gegenden werden. Dabei spreche ich nicht von den Küstenregionen, wo eher die Gefahren der Syltifizierung wachsen. Mir geht es um das idyllische aber weitgehend unentdeckte Binnenland, für das es die schöne Vision vom „Garten der Metropolen“ gibt.
Stadt sucht Geschichte
In den Großstädten wachsen in einer anachronistischen Parallelwelt die pseudo-historischen Quartiere. Damit meine ich nicht die Erhaltung von historischer Bausubstanz, die ja erfreulich ist. Es geht um die Neuschaffung von Geschichte. Nehmen Sie das Berliner Schloss, das die SED 1950 sprengen ließ, oder das Braunschweiger Schloss, das die SPD 1960 abreißen ließ. Nehmen Sie das Dresdner Frauenkirchen-Quartier oder die Frankfurter Altstadt um den Römer – alles untergegangene Geschichte, die neu gebaut wird. Ganz zu schweigen vom historischen Pflaster, das heute Asphalt ersetzt.
Neu errichtete Geschichtsfakes auf dem Lande können Sie lange suchen. Auf dem Land -konkret bei uns in Mecklenburg-Vorpommern – ist viel an alter Substanz der Gutsimmobilien und Kirchen restauriert worden, aber ganz viele Gebäude, die 1990 noch zu retten waren, gingen und gehen vor die Hunde.
Es ist die Stadt, die zu ihrer kalten Funktionalität von Wohnen, Arbeiten und Verkehr die Heimeligkeit von immer mehr Historie für Ihre gehobenen Shopping-, Freizeit- und Tourismus-Funktionen braucht.
Impulse durch gute Gentrifizierung
Das sind mentale Anknüpfungspunkte für eine Gentrifizierung auf dem Lande. Dabei geht es nicht um die ohnehin boomende Küste, sondern um strukturschwaches Binnenland. Und es geht im Unterschied zu urbanen Quartieren um einen positiven Gentrifizierungsprozess, der keine Verlierer zurücklässt. Aber ähnlich wie in städtischen Gentrifizierungsvierteln können historisch ausdrucksvolle Immobilien und tradierte baulich-landschaftliche Ensembles Leuchttürme für den Zuzug wohlhabender und ideenreicher Neubürger werden.
Und solchen Zuzug brauchen wir auch, wenn wir unsere vielen Guts- und Herrenhäuser erhalten wollen. Denn die vorherrschende Erfahrung zeigt, dass sie als bloße Renditeobjekte untauglich sind. Sie brauchen Liebhaber mit genügend Eigenkapital, die ihre Rendite mehr in guten Gefühlen als in Geld abrechnen. Wenn es gelingt, solche Menschen aufs Land zu locken, können alle gewinnen – auch die Armen und Arbeitslosen vor Ort. Von der Denkmal-Restaurierung und -Revitalisierung kann der Impuls für Zuzug darüber hinaus ausgehen.
Die Herausforderung heißt, die Bauwerke der alten Ländlichkeit zu erhalten. Mehr noch: ihren Ensemblecharakter im Dialog mit Wirtschaftsgebäuden, Parks, Sichtachsen – so gut es geht – zu sichern, nachdem die DDR bestrebt war, diese Ensembles systematisch mit Schweineställen, Garagen, Heizschloten und Datschen zu verhunzen. Historisches stark machen, das ist kein Knüppel zwischen die Beine des Fortschritts. Im Gegenteil, das Kapital der Geschichte lässt sich einsetzen für Fortschritte in der ästhetischen und sozialen Gesundung unserer ländlichen Räume.
Kontakt: kontakt@dr-wolf-schmidt.de
Autor Dr. Wolf Schmidt berät Stiftungen, ist Sprecher des Landesnetzes der Stiftungen in MV und leitet die „Initiative Neue Ländlichkeit” in der Mecklenburger AnStiftung.
Lieber Wolf,
vielen Dank für Deinen ausgezeichneten Vortrag. Ich kann dem nur zustimmen. Du solltest den Text mal an die zuständigen Minister in unserem Land schicken,die bis heute nicht kapiert haben, welche Schätze in MV schlummern und und der Erweckung harren. Ob es etwas nützt ist natürlich die Frage. Noch wichtiger wäre, Deine Gedanken zu diesem Thema medial möglichst weit zu verbreiten. Vielleicht kann ja die SVZ den Text als Gastkommentar abdrucken. Es gibt so viele Beispiele,die genau das belegen, was Du beschreibst.
Herzlichen Gruß
Christian
Lieber Wolf Schmidt, ein lesens- und nachdenkenswerter Beitrag. Vielfach möchte ich sofort zustimmen, aber irgendwie und -wo suche ich den Widerspruch. Es gibt die Beispiele der wunderbar restaurierten Gutshäuser und -parks. Doch was passiert, wenn dann ein Schild kommt „Betreten verboten“. Das Großartige an der Elphi – sie hat eine Gebrauchswertigkeit, und, die geht über eine Stammkundschaft hinaus. –
Viele Dank für die Anregung! Lutz Camin
Na ja, dafür haben die Steuerzahler den Elphi-Eintritt im Vorwege teuer bezahlt. Aber Ihr Einwand bleibt trotzdem ernstzunehmen. Wo immer öffentliche Mittel fließen, sollte der Besitz auch seinen kulturellen Wert den Interessierten offenbaren. Dass dabei auch Herrenhausbesitzer Anspruch auf eine Privatsphäre haben, ist klar. Für mich geht es aber um mehr als das Betreten. Jede(r), der in ein „Schloss“ oder eine ähnlich herausgehobene Immobilie auf dem Dorf zieht, muss wissen, dass er eine soziale Rolle mit der Herausforderung übernimmt, dem „Patron“ von anno dazumal eine zeitgemäß-demokratische Form zu geben. Wer glaubt, im Gutshaus die isolierte Anonymität der städtischen Villa leben zu können, macht sich und die Nachbarn unglücklich.
Danke für das inspirierende Feedback
Wolf Schmdt
Lieber Wolf, wir haben in Mainz gerade mittels von der Politik zielbewusst eingesetztem Bürgerentscheid die Chance versemmelt, das Gutenberg-Museum durch ein vorgesetztes Bausignal namens Bibelturm aufzuwerten und der Stadt ein wichtiges Identifikationsmerkmal zu geben. Insofern gräbt dein Beitrag -obwohl auf attraktive Ländlichkeit zielend- in einer Wunde. Hab Dank dafür.
Mit herzlichen Grüßen
Henning v.Vieregge