Die Macht der Land-Narrative

Von Wolf Schmidt
Wie wird Landleben oder Stadtleben in 10 Jahren aussehen? Werden wir einen Urbanisierungsschub oder einen Trend aufs Land erleben?

Die Wahrheit ist, dass dies niemand voraussehen kann. Naturwissenschaftliche Prozesse, die reproduzierbar sind, lassen sich sehr exakt voraussagen. Bei Ereignissen, für die lange massenhafte Datenreihen vorliegen, erkennen wir Trends, die uns eine passable Zukunftsorientierung gewährleisten, z. B. zur Geburtenrate, zur Zahl der Autounfälle, zur jährliche Niederschlagsmenge oder zum Eierkonsum. Allerdings wissen wir: Auch hier können unvorhersehbare Entwicklungen – z.B. neue medizinische Erkenntnisse zu Eiern – einen Strich durch die Hochrechnung machen. Komplexe soziale und ökonomische Vorgänge sind selbst in Jahresfrist unabsehbar. Welche Partei bei der nächsten Bundestagswahl die Mehrheit erringt, ob Immobilien, Öl- und Aktien-Preise steigen oder fallen, ob wir den Höhepunkt der Massenmigration nach Deutschland vor uns oder hinter uns haben, ob Arbeitslosigkeit zu- oder abnimmt, darüber lesen wir jeden Tag widersprüchliche Prognosen. Wir brauchen solche Prognosen für unser Wahlverhalten, unsere Konsumentscheidungen, für berufliche Orientierung. Am Ende aber bleibt bei aller Wissenschaft eine gehörige Portion Kaffeesatzleserei.

In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist ein Streit über die Bedeutung solcher Zukunftserwartungen entbrannt, die in Stories oder Narrative gekleidet werden. Sogenannte „harte Ökonomen“, die Modelle mit Daten füttern, halten das Interesse von Verhaltensökonomie und Wirtschaftssoziologie an den Narrativen für „Anekdoten-Ökonomie“. Jüngst hat der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller von der Yale University den Wert der Narrative – was sich Menschen erzählen, um bestimmte Dinge zu erklären – vor der American Economic Association mit vielen Beispielen belegt.

In Deutschland ist es vor allem Professor Jens Beckert, Direktor des renommierten Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, der sich mit Stories und Narrativen, die er „fiktionale Erwartungen“ nennt, beschäftigt. Sie „motivieren wirtschaftliches Handeln, dessen Richtigkeit sich erst später herausstellt“. Wirtschaftliches Handeln folge also nicht allein Kalkulationen sondern Erzählungen, die für glaubwürdig gehalten werden. Deshalb müssen man mit einer „Politik der Erwartungen“ rechnen, die nicht gleichsam objektiv interessenunabhängig daherkomme, sondern selbst Glaubwürdigkeit für bestimmte Szenarien erzeugt. Und es gehe um reale Wirksamkeit von Erwartungen: Niemand könne z.B. am Beginn einer technologischen Innovation vorhersagen, ob sie gelingt und überdies am Markt erfolgreich wird. „Doch, wenn überhaupt, kann die vorgestellte technologische Zukunft nur mit Hilfe der durch fiktionale Erwartungen motivierten Investitionen je Realität werden. Ohne eine glaubwürdige Fiktion am Anfang käme es nicht zu den notwendigen Investitionen und wir könnten nie herausfinden, ob die vorgestellte Zukunft möglich ist.“

Ein Beispiel für die Macht des Narrativs ist die Atomenergie. Am Anfang stand eine Vision der Alternative zum Atomkrieg. Die friedliche Nutzung sollte grenzenlos Energie zu geringem Preis liefern. Selbst atomgetriebene Autos wurden propagiert. Atom stand im positiven Sinne für eine leuchtende Zukunft, für die Spitze des Fortschritts im Kapitalismus wie im Sozialismus.

Mit den Anti-AKW-Demos der 70er Jahre wurde dieses Narrativ erstmals in Frage gestellt. Dann kamen Tschernobyl und Fukushima. Nun erscheint Atom als dunkles Symbol menschlicher Hybris , langfristig unbeherrschbarer und unverantwortlicher Technologie. Glanz und Elend der Atom-Story entwickelten sich auf einer im wesentlichen identischen Informationsbasisvon Atomphysik und Ingenieurstechnik. Auch die Kraftwerkshavarien waren als Möglichkeit durchaus bekannt. Die Erzählperspektive macht den Unterschied.

Wie lässt sich das auf ländliche Räume anwenden? Stadt- oder Landleben wird nicht in Jahresfrist dramatische Umbrüche erleben, aber innerhalb von zehn Jahren können tiefgreifende technologische und kulturelle Veränderungen greifen. Wer das Hohelied der Urbanisierung singt, sorgt selbst mit dafür, dass Menschen und Investitionen in die großen Städte gehen. Wer Landleben primär als Belastung für junge Familien, Berufstätige und Senioren, als rückständig und chancenlos schildert, trägt zum Niedergang der Dörfer und Landstädte bei. Wer umgekehrt die Uckermark hypt, hilft der Region mit Zuzug und steigenden Immobilienpreisen. Das nennt man self-fulfilling-prophecy, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Geht es also nur noch darum, dass Unerwünschte schlecht und das Erwünschte schönzureden? Gewiss nicht. Gesellschaften brauchen konkurrierende Erzählungen über das, was ist und was daraus werden könnte. Erst das Denken in Alternativen macht wach für neue Beobachtungen und schärft die Argumente.

Deshalb ist es an der Zeit, das herrschende politische Narrativ, dass die Zukunft in der Stadt liegt, und das Kitsch-Narrativ der Landhaus- und Landmoden-Romantik mit einer schärferen Sicht der Chancen und Potenziale von wirklichen Landleben zu konfrontieren. Die neue Ländlichkeit ist schon Gegenwartsdiagnose, es geht aber auch um eine kraftvolle Story, die selbst Wirklichkeit schafft.
Kontakt: kontakt@dr-wolf-schmidt.de
Autor Dr. Wolf Schmidt berät Stiftungen, ist Sprecher des Landesnetzes der Stiftungen in MV und leitet die „Initiative Neue Ländlichkeit” in der Mecklenburger AnStiftung.

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