In Deutschland neigen wir zu der Auffassung, an der Spitze des technischen Fortschritts zu stehen. Leider trifft das zumindest in einem zentralen Teilbereich nicht zu. Die Rede ist von der digitalen Infrastruktur unseres Landes.
Dass Dänemark, die Niederlande und Schweden in der Erschließung mit schnellem Internet (über 30 Megabit pro Sekunde) weiter sind als wir, mag noch ins Bild passen. Aber selbst in Portugal verfügen 58 % aller Unternehmen ab 10 Beschäftigten über schnelles Internet, in Deutschland dagegen nur 42%. Die Bundesnetzagentur enthüllte neulich, dass 28,4% der Nutzer bei uns nicht einmal die Hälfte der Datenübertragung erreichen, die der Provider als Höchstgeschwindigkeit angibt und sich bezahlen lässt.
Wenn es um einen stark ländlich strukturierten Staat mit vorbildlicher Internetnutzung geht, ist fast immer von Estland die Rede. So ist es keine Überraschung, dass die Bertelsmann Stiftung auf der Suche nach good practice der Digitalisierung auf das baltische Land stieß und es 2017 mit dem Reinhard Mohn Preis in Höhe von 200.000 € für den vormaligen estnischen Präsidenten IIves auszeichnete.
Unter dem Titel „Smart Country – Vernetzt. Intelligent. Digital.“ hat die Bertelsmann Stiftung die Recherche-Ergebnisse zur Ermittlung des preisgekrönten Landes veröffentlicht (Verlag Bertelsmann Stiftung 2017, 96 Seiten, 20,00 €).
Die Studie vergleicht Estland mit Schweden, Israel und Österreich als weiteren Anwärtern, die für den Mohn-Preis in der engeren Wahl waren. Analysiert werden sechs verschiedene Felder der Digitalisierung: Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Arbeit, Mobilität und Logistik, Gesundheit und Pflege, Lernen und Information sowie strukturelle Elemente der Daseinsvorsorge.
Bei den Länderanalysen spielt Israel eine Sonderrolle, weil dort die Entwicklung digitaler Technologie hochgradig militärisch getrieben ist. Dagegen sind Estland (31 Einwohner pro Quadratkilometer), Schweden (24 E/km²)und auch Österreich (104 E/km²) mit ländlichen Regionen gerade Ostdeutschlands gut vergleichbar, da alle drei Länder sich durch geringe Bevölkerung in weiten Landesteilen auszeichnen, die auch noch schwierig mit Kabel bzw. Funk zu erschließen sind. So legt die Studie immer wieder den Finger in die Wunde schwacher digitaler Erschließung ländlicher Räume in Deutschland: „Zentrale Faktoren beim Ausbau einer flächendeckenden Netzinfrastruktur sind die Bevölkerungsdichte sowie der Urbanisierungsgrad. Vor allem in gering besiedelten, ländlichen Regionen ist die Herausforderung ungemein groß, einen leistungsfähigen und auch bezahlbaren Internetzugang sicherzustellen.“ (S. 31)
Leider geht die Studie auf diesen speziellen Aspekt nicht durchgängig ein. Zumeist werden hoch aggregierte Daten verglichen, in die Hamburg, Berlin oder München genauso eingehen wie die Uckermark. Das ist eine statistische Fleißarbeit der schweizerischen Prognos AG im Bertelsmann-Auftrag, die für den Leser ermüdend ist. Die Notwendigkeit der flächendeckenden Glasfaserverkabelung bzw. des Datenfunk, für den gerade der neue 5G-Standard zur Ablösung von LTE ausgerufen wurde, bedarf eigentlich keiner Begründung mehr. Der Skandal besteht vielmehr darin, das über Jahre Herausforderungen benannt, aber nicht erfolgreich angegangen werden. BER und Stuttgart 21 lassen grüßen.
Für die Gesellschaft insgesamt, und die ländliche speziell, müsste eigentlich der Nutzen in praktischen Anwendungen von Digitalisierung im Mittelpunkt stehen – und das ist mehr als Email, WhatsApp, Google und Onlineshopping.
Zu weiterführender digitaler Praxis sind die Hinweise im Bertelsmann-Buch eher verstreut. Z. B. ermöglicht die digitale Plattform eKool in Estland einen separaten Zugriff auf die jeweils relevanten Schul-Vorgänge für Schüler, Lehrer, Eltern und Verwaltung. Das schwedische Projekt Digidelnätverket widmet sich der Aufgabe, digitale Außenseiter an eine qualifizierte Internetnutzung heranzuführen. Schweden hat im Gesundheitssystem bereits stark digitalisiert, so dass es z.B. Rezepte gibt, mit denen Patienten ihre Medikamente in jeder Apotheke Schwedens abholen können. Schweden sticht besonders hervor durch eine inklusive Digitalisierungspolitik.
In Österreich können über ELGA Gesundheitsdaten abgerufen, von Patienten eingesehen und von diesen auch gesperrt werden.
Es sind solche Beispiele, von denen ich mir mehr gewünscht hätte und über die ich gerne mehr erfahren würde. Was ist international fortgeschrittene Praxis nicht nur in Verwaltungsfragen, sondern auch in digitaler Arbeitsorganisation mit Homeoffice, wie funktionieren Bildungsclouds, ärztliche Online-Sprechstunden oder die Steuerung von Zweitwohnsitzen? Fehlanzeige. Da bleibt Bertelsmann hinter dem eigenen Anspruch praktischer Lösungsvorschläge zurück.
Auch in Deutschland gibt es schon Vielversprechendes wie das Projekt „Digitale Dörfer“ des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering für Rheinland-Pfalz und Bayern, bei der lokaler Online-Shop, regionales Transportnetzwerk und Soziales Medium als Nachbarschaftshilfe verknüpft werden sollen. Wer allerdings auf die entsprechende Website geht, wird kaum erkennen können, welcher praktische Mehrwert für den ländlichen Raum hier angestrebt wird.
Mein Eindruck: Die großen Konzepte zur Digitalisierung der Dörfer – jenseits des Verlegens von Kabeln – schweben in Sphären, die sich dem potentiellen Nutzer nicht erschließen. Gleichzeitig gibt es jeden Tag neue Apps, Programme, Tools und Geräte, die jeweils für sich interessante Möglichkeiten liefern und für den ländlichen Raum neue Türen aufstoßen könnten. Sie werden aber in ihren Systempotenzialen nicht erkannt bzw. nicht genutzt. Hier spiegelt sich ein Phänomen, dass jeder vom eigenen Computer kennt: genutzt werden von den Fähigkeiten des Rechners vielleicht 5%, die übrigen 95% bilden im günstigen Fall schlafende Reserven, im ungünstigen machen sie den Nutzer konfus.
Insofern ist die Bertelsmann-Publikation typisch für eine deutsche Debatte, die mehr auf das Netz als den Nutzen für gesellschaftliche Transformationen schaut. Vom möglichen Schaden einer Totalüberwachung ganz zu schweigen.
Die entscheidende Herausforderung scheint darin zu bestehen, die Digitalisierung für eine neue – der Stadt bestenfalls überlegene – Qualität ländlichen Lebens für LandbewohnerInnen wirklich verstehbar und nutzbar zu machen. Eine Aufgabe, die aus Anwender-Perspektive anzugehen ist und großenteils eine Kommunikationsfrage darstellt.
Kontakt: kontakt@dr-wolf-schmidt.de
Autor Dr. Wolf Schmidt berät Stiftungen, ist Sprecher des Landesnetzes der Stiftungen in MV und leitet die „Initiative Neue Ländlichkeit” in der Mecklenburger AnStiftung.