Engagement für Mecklenburg-Vorpommern: Identitätssuche in einem geschundenen Land

 

 Vortrag beim Rittertag der Mecklenburgischen Genossenschaft des Johanniterordens am 10. Mai 2025 in Ludwigslust

Vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich sehr, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Dabei bin ich mir wohl bewusst, ein besonderes Auditorium vor mir zu haben. Ein Auditorium, das in sehr spezifischer Weise zur Identität dieses Landes gehört. Und Sie werden ganz eigene Erfahrungen mit Identitätsbildung vor dem Hintergrund von mecklenburgischen Familiengeschichten gemacht haben. Familienbiografien, die gebrochen waren durch zwei Weltkriege, durch die politischen Systemwechsel 1918,1933 und 1945. Schließlich durch die Revolution 1989/90, ohne die wir uns heute hier nicht begegnen würden.

Ein paar Worte zu meiner Verwurzelung in diesem Land. Gerade habe ich mein drittes Buch zu Mecklenburg-Vorpommern veröffentlicht – darauf komme ich noch – und war unter anderem zu einer Lesung eingeladen in den Alten Pferdestall Fahren – das ist in der Nähe der A20-Abfahrt Zurow hinter Wismar. Ein ländlicher Veranstaltungs- und Kulturort. Ich hatte dunkle Erinnerungen über Fahren und Vorfahren und habe dann festgestellt: mein Auftritt fand genau in demselben Gebäude statt, in dem einer meiner Ur-Urgroßväter vor 150 Jahren als Kutscher tätig war.

Mein Großvater anderer Linie, der mich nicht unerheblich geprägt hat, war 1892 als Landarbeiterkind auf Hof Dümmerstück, nicht sehr weit von hier, geboren. Als Hotelier hat er es in Wismar zu Wohlstand und Ansehen gebracht – bis 1953 die Aktion Rose ihn ins Zuchthaus nach Bützow und den Rest der Familie mit mir in den Westen verschlug. Über Generationen betrachtet entstamme ich also nicht dem, was man bei uns Schloss nennt, sondern dem Katen.

Aus der Aufstiegsgeschichte meines Großvaters weiss ich, wie wichtig eigener Boden für die Verwurzelung ist. Viele andere Mecklenburger haben diesen Boden im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht hier, sondern in Amerika gefunden. Den Zusammenhang von Heimat und Grundeigentum sollte man nicht unterschätzen.

Meine Mutter hat sich nach der Wende gleich für die Rückkehr entschieden und ich habe hier meine persönliche Identitätssuche erlebt. Ergebnis war die Gründung der Mecklenburger AnStiftung 2005. Seit 2010 lebe ich mit meiner Mecklenburger Frau in Dobin am See.

Nun also zum Thema Engagement und Identität – zwei abstrakte Begriffe, die ich mit WIR-Gefühl verdeutschen möchte.

Dazu eine Anekdote. Ein Verwandter ist auf Rügen aufgewachsen, verheiratet mit einer Hannoveranerin. Vor einigen Jahren sind sie nach München gezogen. Gar nicht viel später erhielten wir das Einschulungsfoto des Kindes und erblickten darauf unseren Rüganer im bayerischen Trachtenjanker. Das hat uns umgehauen. Sie erinnern sich vielleicht, dass unser vormaliger Bildungsminister Brodkorb vor einem Jahrzehnt versucht hat, die Warnemünder Fischertracht bei uns als Identitätsmerkmal zu etablieren. Ein Rohrkrepierer. Oder denken Sie an den Kölner Karneval, ein Fest, das unabhängig von Glauben und Herkunft alle erfasst. Das ist gelebtes WIR-Gefühl.

Warum klappt das nicht bei uns?

Vermutlich hat ein Teil der Antwort mit der konfessionellen Kultur zu tun. Wenn Sie sich die jüngsten Bilder vom Petersplatz nach der Papstwahl vor Augen halten, scheint mir offensichtlich, dass der Katholizismus inbrünstiger feiern und ergreifender ein WIR-Gefühl inszenieren kann als Protestanten oder protestantisch sozialisierte Agnostiker wie ich.

Ein zweiter Teil der Antwort hängt mit dem zusammen, was ich im Titel meines Vortrags geschundenes Land genannt habe.

Hätte man nicht einfach von MV-Identität sprechen können? Ich bin mir nicht sicher, ob es die gibt. Unsere Landesverfassung kennt zwar in Artikel 5 ein „Volk von Mecklenburg-Vorpommern“. Aber Sie wissen, auf welche Geschichte Mecklenburg-Vorpommern im Jahre 1990 zurückblicken konnte? Mecklenburg gab es seit 800 oder 1000 Jahren, Mecklenburg-Vorpommern existierte ganze 18 Monate – als sowjetische Schöpfung von Juli 1945 bis Januar 1947. Wenig Zeit für eine Landesidentität. Die WIR-Gefühle in Mecklenburg sind anders als in Vorpommern, an der Küste anders als im Binnenland.

Von wessen WIR-Gefühl reden wir eigentlich?

1990 hatte MV rund 1,9 Millionen Einwohner. Seitdem haben mehr als eine Million Mal Menschen diesem Land ade gesagt und ihr Glück woanders gesucht. Gleichzeitig haben sich über eine Million Zugewanderte hier neu angemeldet – dabei sind Zweitwohnsitze noch gar nicht berücksichtigt. So verdanken wir den meist deutschen Binnenmigranten, dass es heute über 1,6 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner in MV gibt. Wenn Sie im Land auf die Idiome achten, merken Sie: Zugewanderte überwiegen.

Wer sind die Einheimischen?

Die, die hier geboren oder zumindest aufgewachsen sind. Natürlich. Ein Großteil von ihnen bzw. ihren Eltern oder Großeltern ist nicht, wie manches Klischee suggeriert, jahrhundertelang hier verwurzelt, sondern im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs nach MV gekommen – bettelarm um das tägliche Überleben kämpfend. Im überwiegend ländlich geprägten MV sind sie durch die Irrungen und Wirrungen des „Sozialismus auf dem Lande“ gegangen und haben sich damit mal so mal so eingerichtet.

1989 kommt die friedliche Revolution und die Umwälzung aller Lebensverhältnisse. Die gewohnte Heimat – das vertraute Dorf, das oft mehr oder weniger identisch mit einer LPG war – verschwindet in Wochen.

Mir – und ich vermute, vielen hier im Saal – ist dieses in Kindheit und Jugend gegründete Heimatgefühl aus politischen Gründen nicht mitgegeben. Unser Heimatgefühl der Exilanten speiste sich nicht aus kindlichen und jugendlichen Eigenerfahrungen vor Ort, sondern Familienerzählungen. Als sich diese Heimat 1990 öffnete, hatten sie viele von uns längst abgeschrieben. Nun begann die Suche nach den elterlichen Ländereien, Häusern und Erinnerungsorten.

Als jemand, der in seiner Wuppertaler Jugend im Elternhaus täglich das Hohelied auf Mecklenburg hören musste (und hassen lernte), ist mir die emotionale Dimension des Wiederfindens von Heimat gut vertraut.

Gerade auf dem Lande finden wir heute überall Nachfahren von altem Adel und bürgerlichen Gutsbesitzern. Zugewanderte, denen ihr Exil häufig erst mit der Maueröffnung wieder voll zu Bewusstsein kam und die großes Engagement mitbrachten. Nicht selten gepaart mit einem melancholischen Gefühl, das wahre Mecklenburg oder Vorpommern zu verkörpern.

In Verbindung mit der Weltläufigkeit des Wessis verstärkte diese fremde Heimatgruppe bei vielen Einheimischen eher Ängste, wieder einmal untergebuttert zu werden.

Hinzu kommen ganz andere Neubürger. Der Luxus der Leere im Hinterland (nicht an der Küste!) nach der Zerschlagung der sozialistischen Betriebe und der Massenabwanderung brachte eine dritte Gruppe ins Spiel: Angezogen von diesem naturwilden, dünn besiedelten, durchgeschüttelten und irgendwie anarchischen Land im Nordosten entwickelte sich ein goEast. Heraus aus den allzu fest gefügten Verhältnissen, wo die Claims längst abgesteckt waren, ein ganz neues Leben wagen. Nur zum Teil kamen sie aus dem Westen, nicht wenige waren auch der Ost-Urbanität überdrüssig und folgten der DDR-Sehnsucht Richtung Küste – einige sogar schon vor 1989. Das Heimat-Verständnis dieser Raumpioniere und Neulandgewinner, wie sie sich nennen, ist nicht das konservative der Herkunft, sondern in Anlehnung an Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ die Heimat aus der Zukunft, die utopische Heimat, die erst zu schaffen ist.

Mittlerweile – infolge von Corona sowie Miet- und Hauspreisexplosion in den Großstädten – kommen immer mehr, die nur auf der Suche nach dem erschwinglichen Eigenheim sind.

Oder es geht um Menschen, die für ein Studium oder – eher selten – einen Job nach MV umgezogen sind.

Nun zur Stiftung. Die Geburtsidee der Mecklenburger AnStiftung war, bürgerschaftliche Initiative für das Überleben dieses Landes – Mecklenburg und Vorpommern – zu mobilisieren. Wir sind wieder beim WIR-Gefühl.

Gegründet habe ich die Mecklenburger Anstiftung 2005. Hintergrund waren meine damals 24 Jahre praktische Erfahrung in der Hamburger Körber-Stiftung mit ihren parteiunabhängigen gesellschaftspolitisch ausgerichteten Aktivitäten. So etwas fehlte ganz offenbar in Mecklenburg-Vorpommern. Hier richtete sich zu viel Hoffnung auf „die da oben“, die es richten sollen. Und gerade in der Zeit, als die Debatte um „das Land läuft leer“ dominierte, schien es uns im Gründerkreis wichtig, mit bürgerschaftlichem Engagement diesem Land Zukunftsperspektiven aufzuzeigen.

Das Land läuft leer, bedeutete nämlich für die Regierenden, vorausschauend die Daseinsfürsorge an die zu erwartende geringere Bevölkerung anzupassen. Zum Beispiel weniger Hochschulen, weniger Polizeistationen, weniger Krankenhäuser. Das drohte zur Self Fulfilling Prophecy zu werden, denn wer will schon als Letzter das Licht ausmachen…

Ausgestattet habe ich die Stiftung mit einem Grundstockvermögen von 20.000 €. Aus der Stiftungsaufsicht hieß es damals, damit seien wir nach MV-Maßstäben eine mittelgroße Stiftung. Nun ja… Auch wenn wir heute dank unserem Zustifter Maik Klokow über 100.000 € Stiftungskapital verfügen, ist das von der Finanzkraft eine Lachnummer. Was kann man damit bewegen? Das, was wenig kostet: reden, schreiben, Menschen mit eigenen Formaten ins Gespräch bringen. Das haben wir gemacht.

Dabei hat sich schnell herausgestellt, dass die Menschen ihre Heimat lieben und wenn sie trotzdem abwandern, ernsthafte Gründe vorliegen. Die lassen sich nicht einfach aus der Welt räumen. Auch den Sterbeüberschuss gegenüber der Geburtenzahl kann man nicht mal eben beseitigen. Die Stellschraube, die von allen Bevölkerungsprognosen ignoriert wurde, war die Zuwanderung. Das war unser Fokuswechsel und der erwies sich als erfolgreich, was auch immer wir dazu beigetragen haben mögen.

Dazu eine Klarstellung. Zuwanderung bedeutet freie Entscheidung für diesen speziellen Ort mit einer Idee, was ich dort mit eigenen Ressourcen für mich und idealerweise auch für das lokale Gemeinwesen realisieren möchte. Ob diese Menschen aus Bayern oder den Niederlanden, aus Russland oder Dänemark kommen, ist ein interessanter Nebenaspekt. Das ist etwas ganz Anderes als obrigkeitliche Einquartierung. Eine Politik, die Menschen aus anderen Kulturkreisen in großer Zahl lagermäßig in Dörfern und Kleinstädten unseres Landes ablädt, scheint mit Blindheit geschlagen zu sein.

Bei Zu- und Abwanderung sind sehr unterschiedliche Bedingungen zu beachten: vor allem Stadt-Land-Unterschiede und touristische Zentren versus Hinterland.

Die Frage für uns war, wie kann man die ländlichen Gebiete abseits der Küste attraktiv machen. Eine Antwort lag in der Rolle der Kultur. Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel locken viele Auswärtige ins ländliche Nirgendwo und zeigen, wie schön es dort ist. Die Zuwanderung von Künstlern und Kulturschaffenden auf die Dörfer macht Aktionen wie KunstOffen oder KunstHeute, die Offenen Töpfereien und die Offenen Gärten möglich. Dadurch kommen an einem Wochenende nicht selten mehr Besucher als das Dorf Einwohner hat. Das schafft ein anderes WIR als das des vergessenen Abgehängtseins. Auf Zuwanderungsinteressierte wirken Künstler obendrein als Testimonials für Weltoffenheit und Lebensqualität auf dem Dorf.

Ein zweiter Attraktionsfaktor, auf den wir aufmerksam wurden, ist das ländliche Bauerbe. Lokale Identität macht sich häufig an „unserem Schloss“ fest. Die Herrenhäuser, Kirchen, Mühlen, alten Speicher und Gutsgebäude markieren gebaute Identität in der Beliebigkeit sozialistischer und kapitalistischer Einfamilienhaustypen.

Wir haben diese Thematik zusammen mit der Herbert Quandt-Stiftung 2012 durch die Publikation „Die Kunst des Bleibens – Wie Mecklenburg-Vorpommern mit Kultur gewinnt“ in die Öffentlichkeit getragen. Und aus dem Herrenhaus-Engagement haben sich viele Tagungen und Vorträge ergeben.

Ein weiterer Attraktionsfaktor für das Kommen und Bleiben ist das WIR der Zivilgesellschaft. Orte, wo Bürger selbst etwas in die Hand nehmen, ziehen eher Zuwanderung an als passive. Auffällig war dabei, dass Zivilgesellschaft im Osten fast durchweg staatlich alimentiert war und leider immer noch ist.

Freies eigensinniges Engagement der Bürger braucht privates Geld, sprich Stiftungen. In MV war und ist Stiftungswesen besonders unterentwickelt und war von politischer und staatlicher Seite eher misstrauisch beäugt. Das ist jetzt wesentlicher besser geworden – auch durch unseren Einsatz. Denn 2011 haben wir einen Landesstiftungstag in der Wismarer Georgenkirche veranstaltet und das Landesnetzes der Stiftungen in MV gegründet. Über 70 Stiftungen haben wir dafür gewonnen. Nach über 10 Jahren aktiver Lobby- und Bildungsarbeit unter dem Dach der AnStiftung konnten wir 2022 das Landesnetz als selbständigen Verein ausgründen – ein erfreulicher Erfolg.

Ein neues Kapitel haben wir 2017 mit dem Konzept der „Neuen Ländlichkeit“ aufgeschlagen. Dazu haben wir das Buch „Luxus Landleben. Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs“ veröffentlicht.

Worum geht es? Wir leben in MV fast überall in agrarisch geprägter und genutzter Landschaft, aber die Gesellschaft ist postagrarisch Nehmen Sie zum Beispiel mein Dorf Liessow, wo ich mich vor 15 Jahren niedergelassen habe. 1990 war das praktisch nur eine LPG. Das hat sich fundamental geändert. Meine Hamburger Freunde haben mich jahrelang gefragt, wie mein Leben mit den Bauern aussieht. Dann muss ich immer erzählen, dass unter den gut 200 Dorfbewohnern gerade mal eine Handvoll von der Landwirtschaft lebt.

Diese postagrarische ländliche Gesellschaft hat noch kein WIR-Gefühl entwickelt, ihr eine Stimme zu geben und sie für Zuwanderung attraktiv zu machen – darum ging und geht es.

Was ist Neue Ländlichkeit? Die alte Ländlichkeit war durch schwere körperliche Arbeit in fest gefügter sozialer Hierarchie geprägt. Die neue Ländlichkeit realisiert Erwerb und Selbstverwirklichung meist jenseits der Landwirtschaft. Landleben ist nicht mehr schicksalhaft von der Wiege bis zur Bahre, sondern eher ein Lebensabschnittsprojekt. Bestimmend ist die moderne Kombination von Natur, Kultur und digitaler Revolution. Zu Natur gehören viel Freiraum, Sport, Garten, gesundes Leben. Kultur bedeutet geistige Nahrung, Anregung, Zusammensein nicht in kommerzialisierter Stadtkultur, sondern nachbarschaftlicher Kultur zum Mitmachen. Die digitale Revolution macht das gesamte Weltwissen im letzten Dorf verfügbar und schließt so die traditionelle zivilisatorische Lücke zwischen Stadt und Land.

Das war 2017 und hatte große Resonanz auch außerhalb von MV, wo es ähnliche Entwicklungen gibt. Der Einfluss der digitalen Revolution wurde zunächst nicht selten als Utopie belächelt. Drei Jahre später hat Corona dem HomeOffice und der Stadtflucht zum Durchbruch verholfen. Mittlerweile braucht man nicht mehr für Landleben werben. Es ist zum Selbstgänger geworden.

Diese Entwicklung begleiten wir mit unserem Landblog (www.landblog-mv.de), bisher zwei „Foren Neue Ländlichkeit“ in der Europäischen Akademie in Waren und einer Online-Reihe zur Neuen Ländlichkeit. Dabei haben an fast 50 Abenden führende Experten aus ganz Deutschland zu allen Aspekten des Landlebens referiert. In zwei Wochen haben wir den „Dorfpapst“ Prof. Dr. Gerhard Henkel zu Gast. Alles ist als Video auf unserer Website (https://www.anstiftung-mv.de/materialien-grussworte/) aufgezeichnet.

Wir sehen, wie gespalten die WIR-Gefühle sind: das ländliche und das urbane, das alteingesessene, das zugewanderte und das der Exilanten. Das der Engagierten und das der Passiven.

Hinzu kommt: In einem Land, in dem nach jüngsten Wahlen 35 Prozent der Bevölkerung von den anderen 50 Prozent durch eine Brandmauer getrennt sind, braucht man über ein politisches WIR-Gefühl nicht weiter nachdenken.

Es bleibt die Frage nach einem kulturellen WIR-Gefühl jenseits von eingeboren oder zugewandert, urban oder ländlich, engagiert oder passiv, politisch so oder so. Wie steht es mit dem Kultur-WIR, mit dem Trachtenjanker bei uns?

  • Wie ist das, wenn man glaubt, nicht in Meeklenburg, sondern in Mekklenburg zu leben?
  • Wenn man denkt, Pommern fange hinter Vorpommern an.
  • Wenn man in Schwerin auf dem Obotritenring überlegt, welches afrikanische Volk da gemeint ist?
  • Wenn man Wiligrad liest und sich fragt, welcher Willy das bei wieviel Grad gebaut hat?
  • Wie vielen bleibt rätselhaft, was all die Schlösser in diesem Land sollen.
  • Wie oft hört man Güstroff und Bützoff oder Stralsund mit Betonung auf der letzten Silbe?
  • Wenn man Loriot liebt, aber keine Ahnung hat, was ihn mit unserem Land verbindet?
  • Wenn man den unübersehbaren Mecklenburger Rippenbraten probiert, aber noch nie von Mecklenburger Götterspeise oder Mecklenburger – wahlweise Pommerscher – Ananas gehört hat?
  • Wie viele halten Moin für einen landestypischen Gruß, können Platt und Missingsch nicht auseinanderhalten?
  • Mancher mag auf dem Amt pommerschen Greif und Mecklenburger Ossenkopp als idiotische Deko ansehen.

Fritz Reuters Werke sind ein literarisches Symbol für mecklenburgische Identität. Obwohl Reuter Demokrat war, galt das für die feudale Zeit des Großherzogtums, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und auch die DDR.

Heute verblasst seine Bedeutung für Heimatgefühl und Heimatverständnis. Das finde ich bedauerlich, ist aber ein Modernisierungsprozess, den wir in gewisser Weise zu respektieren haben. Fritz Reuters Welt verstehen die meisten im Lande nicht mehr. Das gilt für das Niederdeutsche, das zur unverständlichen Fremdsprache mutiert ist. Es betrifft aber auch die Inhalte rund um vorindustrielle Landwirtschaft und vordemokratische gesellschaftliche Hierarchien oder soziale Beziehungen.

Fritz Reuter steht nicht allein da. Was ganz oder teilweise auf Niederdeutsch geschrieben ist, gilt heute als zu anstrengend. Das betrifft auch einen zugegebenermaßen schwer lesbaren aber vor der Wiedervereinigung im Westen gefeierten Nachkriegssautor wie Uwe Johnson. Auch die Autoren, die zu DDR-Zeiten das Mecklenburgische – mehr als das politisch verpönte Pommersche – gepflegt haben, verlieren ihre Fan-Gemeinde. Erinnert sei nur an Jürgen Borchert. Das liegt nur zum Teil an der Obsoletheit der DDR-Bezüge. Mindestens ebenso schlägt zu Buche, dass eine gewisse Heimatbetulichkeit und ein Heimat-Bildungskanon vom Zeitgeist überholt wurden. Symptomatisch für die Schwierigkeiten, ein zeitgemäßes MV-Heimatgefühl zu entwickeln, ist das wiederholte Scheitern einer neuen Landeshymne.

Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass diese Landeskenntnisse unnützes Wissen sind. Dass man lieber Finanz- und Gesundheits-Know-how fördern sollte. Man kann auch sagen, Schule soll es mit Heimatkunde richten.

Ich weiß nicht, wie ein verbindlicher Kanon von Heimat-Wissen heute aussehen sollte, ich denke aber, ein Kultur-WIR – ein geteiltes Wissen über Besonderheiten unserer Heimat – ist ein Gewinn an Lebensqualität für den Einzelnen wie die Gemeinschaft. Und der Schlüssel für mehr Kultur-WIR ist Neugier. Die wirkt nachhaltiger als der Nürnberger Trichter.

Und wie wecke ich Neugier? Ein guter Ansatz ist Irritation, das Gewohnte ein wenig durcheinanderbringen.

Dazu eine Anekdote. 1981 hat mich eine Erbswurst beeindruckt. Die war in einer Preußen-Schau der Gräfin Marie Louise von Plessen, einer großartigen Ausstellungsmacherin, zu sehen. Die Erbswurst wurde als Reliquie des Krieges von 1870/71 und damit der Reichsgründung inszeniert. Ihr verdanken wir nämlich den Sieg, weil sie als Truppen-Verpflegung unschlagbar war und den armen Soldaten damals in 40 Millionen Portionen verabreicht wurde.

Die Idee der Gräfin Plessen: Relikte und Reliquien in einer Gegenüberstellung von Heiligem und Obszönem, Banalem und Bedeutungsvollen, Trivialem und Kostbarem, Gegenwärtigem und Vergangenem irritierend arrangieren und den Blick öffnen. Es geht um Verstehen durch Verfremden.

Ich will nicht behaupten, dass das der alleinseligmachende Weg ist. Aber ich habe mir diesen Ausstellungsansatz vor zwei Jahren zur intellektuellen Herausforderung für das Schreiben gemacht. Herausgekommen ist das Buch „Das andere Mecklenburg-Vorpommern. – Ein Wegweiser von Aalbude bis Zepelin“ (www.das-andere-mecklenburg-vorpommern.de ) Es nähert sich unserer Heimat nicht anbetungsvoll, sondern naiv-kritisch und ironisch mit Interesse am Absurden und Missverständlichen.

Dann gerät einiges ganz anders in den Blick:

  • Was hat Ludwigs Lust mit Lulu zu tun?
  • Warum sind die Bewohner unseres Landes unglücklicher als überall sonst in Deutschland, obwohl es heißt „Das Glück ist eine dumme Kuh, es läuft dem größten Ochsen zu?“
  • Wo ist Schliemann aufgewachsen? In Ankershagen und das ist nur ein Tagesmarsch von Troja entfernt.
  • Welche Unterhaltungs- und Kulturinnovationen verdanken wir den von Bülows außer Loriot?
  • Wie hängt das Dorf Zepelin bei Bützow mit dem Zeppelin zusammen?
  • Und wer weiß schon, dass unsere Nationalhymne von einem mecklenburgischen Kuh-Hirten erschaffen wurde?
  • Wie ist das genau mit Bismarck und dem Weltuntergang in Mecklenburg?
  • Was hat Pommern mit Pommes und Maikäfern zu schaffen?

Die Assoziationsketten sind waghalsig, aber die Fakten stimmen alle.

Bei meinen Lesungen komme ich zu vielen neuen Erkenntnissen über das kulturelle WIR. Zum Beispiel, wie unerschöpflich die Themen Essen und Trinken – Stichwort Ananas und Götterspeise – sind.

Mittlerweile schreibe ich an einem Fortsetzungsbuch und thematisiere manches schon in meinen Buchlesungen. Zum Beispiel ist faszinierend, wie viele Menschen hier mit dem Thema Püstern, dem Besprechen, vertraut sind. Oder wie viel WIR-Potenzial im Grüßen steckt, ob Moin, Tach schön, Tschüssing oder Hol di fuchtig.

In jetzt 44 Jahren Stiftungsarbeit sind meine Ansprüche an Weltverbesserungserfolge irgendwelcher Ideen bescheiden geworden. Engagement, Stiftungsengagement, sollte daher persönlich Spaß machen. Den haben sie mir hoffentlich angemerkt und damit bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert